Zärtlich nimmt die Mutter das Kind in den Arm, schaut sich das aufgeschlagene Knie an, tröstet und wischt die Tränen ab, die die Wange des Kindes hinunterlaufen. Nun kann alles wieder gut werden, zumindest ein Stück weit. Auch wenn wir erwachsen sind, gibt es diese Momente, in denen es so wohltuend ist, wenn wir getröstet werden. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen …“. Was für ein starkes Bild finde ich im letzten Buch der Bibel, gerade richtig für graue, trübe Novembertage. Die Worte berühren mich. Gott sieht jede Träne, die ein Mensch weint: Tränen der Trauer und des Schmerzes, Tränen der Verzweiflung und des Leids. Bei ihm sind sie gut aufgehoben. Ganz gewiss schaut er nicht aus irgendeiner Ferne auf unsere Sorgen und Nöte, vielmehr kommt er zu jedem und jeder von uns persönlich, rührt uns an. Wir dürfen unsere Tränen weinen, unseren Schmerz zeigen. Gott bietet sich als Adressat unserer Tränen an. Aber er ermutigt uns auch, die Trauer und die Tränen unserer Mitmenschen zu begleiten, Tränen bei ihnen abzuwischen. Gott tröstet. Oftmals erleben wir das durch liebevolle Worte, kleine Gesten und Zeichen, die ein anderer Mensch uns schenkt. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein …“ – Eine zärtliche Berührung Gottes, die etwas von dem erahnen lässt, das einmal sein wird. Es wird eine Zeit kommen, in der alle Tränen getrocknet sein werden. In Gottes Ewigkeit wird es keine Tränen und auch keinen Tod mehr geben. Dafür steht Jesus Christus, ein Lichtblick in den Schattenseiten unseres Lebens. Er hat dem Gott, der am Ende die Tränen abwischen wird, vertraut. Das dürfen wir auch. Alles kann gut werden.

Manchmal entfährt uns so ein Seufzer der Erleichterung. Etwa wenn wir nach anstrengenden Tagen endlich mal wieder ausschlafen konnten; oder wenn wir eine schwere Aufgabe hinter uns haben und nun wieder frei sind für die schönen Dinge des Lebens; oder wenn wir in einer Konfliktsituation reinen Tisch machen konnten und die Dinge nun geklärt sind; oder manchmal einfach nur, wenn wir nach schweißtreibender und staubiger Arbeit frisch geduscht sind und neue Wäsche anhaben. „Neu geboren sein“ – das steht für einen wirklichen Neuanfang, sei es im Kleinen wie im Großen. Es beschreibt das Gefühl, ohne Altlasten in das Kommende starten zu können.

„Quasimodogeniti – Wie die neugeborenen Kinder“. So heißt der morgige Sonntag. Die christliche Kirche hat dem 1. Sonntag nach dem Osterfest diesen Namen gegeben, um den neuen Zustand von uns Menschen zu beschreiben, der nach dem Kreuzestod Jesu und seiner Auferstehung eingetreten ist. Der Verfasser des 1. Petrusbriefes nutzt ebenfalls das Bild der Wiedergeburt, wenn er sagt:

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns durch seine große Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.

Als biblisches Wort steht dieser Vers über diesem Sonntag und der kommenden Woche.

Gott hat den Tod besiegt, indem er Jesus Christus von den Toten auferweckt hat. Damit bekommen auch wir Anteil am Ewigen Leben, denn Christus ist für uns gestorben, er ist uns vorangegangen durch den Tod hindurch zum Leben. Der Tod kann uns nichts mehr anhaben! Das ist gemeint mit der „Lebendigen Hoffnung“, zu der wir „wiedergeboren“ sind. Für diesen befreienden Neuanfang sollen wir Gott loben. Die christliche Kirche tut dies seit Ostern vor zwei Jahrtausenden. Und sie wird es weiter tun, auch im Minden des 21. Jahrhunderts, und trotz mancher Schwierigkeiten der Kirche in der heutigen Zeit, solange man uns Christen noch an allen Tagen des Jahres anmerken kann, dass wir durch den glauben „wie neugeboren sind“ – zum neuen Leben befreit!

Christoph Ruffer

Christoph Ruffer

Pfarrer, St. Martini-Kirchengemeinde Minden